Eine Woche lang nichts lesen?

Ein Experiment mit überraschenden Erkenntnissen

Wie? Eine Woche lang nichts lesen? Nee, nicht mit mir. Keine Zeitung? Kein Buch? Kein Internet? Ich dachte, ich seh‘ nicht richtig, als ich in das vierte Kapitel von Julia Camerons Buch „Der Weg des Künstlers“ reingelesen hatte.

Das Buch wurde mir auf so vielen Kanälen begeistert empfohlen, dass ich neugierig geworden war. Außerdem passte das Thema auch wie Deckel auf Topf zu meinem Jahresthema: creative play. Dieses Buch ist keines, das man einfach so runterliest. Es ist ein 12-Wochen-Kurs, bei dem die Autorin jede Woche verschiedene Aufgaben gibt. Da ich nicht so schnell bin, werde ich sogar länger als 12 Wochen dafür brauchen.

Bisher waren alle Aufgaben für mich leicht machbar, zum Beispiel sollte ich über die Vergangenheit nachdenken („Was hast du als Kind gern gemacht?“) oder meine Wünsche für die Zukunft aufschreiben („Was möchtest du noch lernen?“). Doch als ich nichtsahnend die Aufgaben für die vierte Woche las, war ich schockiert. Ich sollte eine Woche lang nichts lesen! Damit ist nicht nur gemeint, keine Zeitung und Bücher zu lesen, sondern auch nicht fernzusehen oder auf Instagram herumzudaddeln. Eine Woche lang sollte ich mich von nichts berieseln lassen.

Und wozu das Ganze?

Der Hintergrund dieser Aufgabe war mir schnell klar: viel zu viel Zeit des Tages verbringe ich wirklich damit, passiv da zu sitzen und die Worte und Bilder anderer Leute auf mich niederregnen zu lassen. Dass das meinen Kopf unnötig füllt, hatte ich selbst schon bemerkt. Die eigenen Gedanken werden verstopft, so schreibt Julia Cameron. Klar, um eigene Ideen zu haben, um die eigene Intuition überhaupt richtig hören zu können, brauche ich einen klaren Kopf. Mir klang das gleich logisch.

Aber es logisch zu finden und es auch zu tun sind zwei Paar Schuhe! Wäre es dir leicht gefallen, eine Woche lang nichts zu lesen? Ich jedenfalls saß da mit dem aufgeschlagenen Buch und stellte mir dieses Experiment wirklich schwierig und kein bisschen spaßig vor. Ich lese einfach so gerne! Und viel! Wir haben ein Abo der regionalen Tageszeitung und eines von der ZEIT, die wöchentlich erscheint. Zum Geburtstag bekam ich ein Abo von kraut&rüben, alle paar Wochen flattert außerdem das flow-Magazin ins Haus. Obendrauf kommt natürlich noch alles, was ich digital lese: Newsletter, Facebook, Instagram… Schon beim Schreiben merke ich, wie viel das ist! Bücher sind noch gar nicht eingerechnet. Und das sollte jetzt alles komplett wegfallen? Uffz!

Aber ich wollte es wissen! Wie fühlt es sich eigentlich an, wenn der Kopf nicht voll ist mit Schlagzeilen, Bildern aus Instagram-Stories und Geschichten, was in Deutschland und der Welt so alles passiert? Hochmotiviert habe ich also direkt nach dem Lesen der Aufgabe beschlossen, dass die eine Woche sofort startet. Wenn schon, denn schon! Mein Ehrgeiz war geweckt.

Hilfe – was mache ich bloß stattdessen?

Im Tagesverlauf habe ich dann ziemlich schnell gemerkt, wie oft ich gedankenlos zum Handy greife oder in einer Zeitschrift blättere. Vor allem, wenn ich kurz auf etwas warten muss, vertreibe ich mir die Zeit mit Lesen. Der Tee muss ein paar Minuten ziehen? Kurz mal auf Instagram vorbei schauen. Die Kinder sind noch nicht fertig zum Losgehen? Mal eben durch die Zeitung blättern. An den ersten beiden Tagen des Experiments habe ich mich wirklich oft beim Lesen erwischt und mir dann gedanklich auf die Finger gehauen. Ok, Handy wieder weglegen. Zeitung zuklappen.

Auch abends hatte ich erst einmal ein großes Fragezeichen vor mir. Was sollte ich zu später Stunde eigentlich noch machen? Der Tag war vorbei, etwas müde bin ich zum Sofa geschlappt. Und jetzt? Mich auf irgendeine Art und Weise berieseln zu lassen, war ja „verboten“. Ja, die ersten beiden Tage waren wirklich ein bisschen anstrengend.

An Tag 3 wendete sich das Blatt aber. Mir fiel immer öfter auf, dass diese alten Gewohnheiten manchmal wirklich Quatsch waren. Es war gar nicht schwierig, etwas zu tun zu finden. Ich war erstaunt, wie viel ich plötzlich gemacht habe! Tatsächlich fand ich es so beeindruckend, dass ich angefangen habe, all diese Tätigkeiten zu notieren, die ohne den Leseentzug nie stattgefunden hätten. Meine Liste war nach nur drei Tagen beachtlich. Anstatt zu lesen habe ich Wäsche zusammen gelegt, Löcher in Klamotten geflickt, meine Feder ausprobiert, die ich schon vor Wochen geschenkt bekommen habe. Ich habe meditiert, aufgeräumt, gemalt und Fotos gemacht. Mit meinem Mann habe ich das Escapespiel ausprobiert, das schon seit Monaten hier herumlag.

Vieles davon stand schon ewig auf meiner To-Do-Liste oder lag unbenutzt im Schrank. Nie gemacht, ich hab ja keine Zeit. Ja, von wegen! Verrückt, wie viel Zeit ich vorher mit Berieselung verbracht habe.

Und noch etwas anderes fiel mir ab Tag 4 auf. Mein Kopf beruhigte sich. Ich hatte sonst oft das Gefühl, viel zu viele gedankliche Tabs gleichzeitig offen zu haben. Doch auf einmal schienen die Zahnrädchen im Gehirn nicht mehr durchzudrehen, irgendwie haben sie sich auf einem langsameren Tempo eingefahren. Es fühlte sich gut an, dass die Gedanken sich nicht mehr überschlagen haben. Ich konnte fokussiert arbeiten und viel leichter als sonst bei der Sache bleiben. Das war nicht nur angenehm, es machte meine Arbeit gleich viel effektiver! Ich habe Aufgaben am Stück erledigt, für die ich sonst manchmal mehrere Anläufe brauche. Für diesen Blogartikel habe ich zum Beispiel im ersten Rutsch direkt 1000 Wörter getippt. Das ist sonst undenkbar!

Interessanterweise hat sich auch nach nur zwei Tagen das Gefühl verloren, jede Pause direkt füllen zu müssen. Es war ok, einfach nur aus dem Fenster zu gucken. Der Drang, direkt zum Handy oder zur Zeitung greifen zu wollen, ist verschwunden. Ein richtiger Entzug! Jetzt fühlt es sich richtig entspannend an, einfach nur auf dem Sofa zu liegen und nichts zu machen. Weil mir vielleicht gerade nichts einfällt. Einfach nur da sein und ein bisschen denken. Den Wolken zugucken. Wann hast du denn das letzte Mal einfach gar nichts gemacht? 

Wie geht es jetzt weiter?

Ganz klar: natürlich werde ich jetzt wieder lesen. Die Woche ist vorbei und auf manches freue ich mich schon richtig. Da ist zum Beispiel mein Samstagmorgenritual. Samstags liegen alle länger in ihren Betten, ich habe das Wohnzimmer ganz für mich, trinke gemütlich einen Tee und lese dabei die Zeitung. Das hat mir diese Woche wirklich gefehlt. Auch das Lesen am Abend finde ich wirklich entspannend, das werde ich in Zukunft nicht mehr weglassen.

Was ich aber ganz deutlich gemerkt habe: es gibt zwei verschiedene Arten zu lesen. Für mich ist es eine schöne Qualität des Lesens, wenn ich abends gemütlich und mit voller Absicht ein Buch lese. Das tut gut, es kann inspirieren, auf jeden Fall entspannt es mich.

Anders sieht es aus mit dem Lesen, das „einfach so passiert“. Das ist wirklich nur pure Berieselung, planloser Zeitvertreib. Wenn ich zum Handy greife, ohne es richtig zu merken. Wenn ich irgendwo herumlese, ohne überhaupt zu wissen, was ich da gerade suche. Das entspannt nicht, sondern macht den Kopf unangenehm voll und bringt mir eigentlich gar nichts.

Mir ist in diesen wenigen Tagen bewusst geworden, wie viel ich an einem Tag tun kann. Ich habe mehr Zeit zur Verfügung, als ich bisher gedacht habe. Mehr machen, mehr erleben, daran habe ich richtig Spaß gefunden. In Zukunft möchte ich deshalb mit meiner Zeit bewusster umgehen. Manchmal werde ich entscheiden, dass ich lesen möchte. Aber auf alle Fälle werde ich auch lesefreie Tage oder Abende einlegen und diese Zeit dann für andere Aktivitäten nutzen. Ich hoffe, dass ich rechtzeitig merke, wenn ich mich wieder berieseln lasse und mir dann selbst liebevoll auf die Finger klopfe. Denn eins ist auch klar: in dieser einen Woche gab es zwar Aha-Effekte, mir ist einiges bewusst geworden. Daraus gute Gewohnheiten zu formen, liegt aber noch vor mir.

Ich freu‘ mich auf jeden Fall, dass ich das Experiment mitgemacht habe und packe es in die Schublade „sehr wertvolle Erfahrung“.

Und jetzt du: kannst du dir vorstellen, auch einen Leseentzug einzulegen? Oder hast du das Buch womöglich schon gelesen und das Experiment schon hinter dir? Ich freu mich auf deinen Kommentar!